KANN VERMITTLUNG AUCH KUNST SEIN?
EIN INTERVIEW MIT SIMON NIEMANN ÜBER DIE PERFORMANCEART UND IHRE VERMITTLUNG.
SIMON NIEMANN IST AUSGEBILDETER THEATERPÄDAGOGE UND STUDIERTER KULTURWISSENSCHAFTLER.
WÄHREND SEINES STUDIUMS HAT ER SICH MIT BESONDEREM INTERESSE DER PERFORMANCEKUNST GEWIDMET UND IST SEITDEM ZWISCHEN KUNST, WISSENSCHAFTLICHER FORSCHUNG UND VERMITTLUNG TÄTIG.
ER HAT IM THEATER HILDESHEIM IM BEREICH DER DRAMATURGIE GEARBEITET UND IST DANACH ALS THEATERPÄDAGOGE AM STADTTHEATER OSNABRÜCK TÄTIG GEWESEN. DORT REALISIERTE ER IMMER WIEDER INTERDISZIPLINÄRE PROJEKTE AN DER SCHNITTSTELLE ZWISCHEN TANZ, PERFORMANCE UND THEATER.
SEIT 2019 PROMOVIERT SIMON AM GRADUIERTENKOLLEG „ÄSTHETISCHE PRAXIS“ AN DER UNI HILDESHEIM ZUR VERMITTLUNG VON PERFORMANCEART ALS ÄSTHETISCHE PRAXIS. DABEI GEHT ES VOR ALLEM DARUM, DIE ÄSTHETISCHE PRAXIS NICHT NUR ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND, SONDERN ALS FORSCHUNGSMETHODE ZU BETRACHTEN.
SUPERPOPP HAT MIT SIMON ÜBER SEINE WISSENSCHAFTLICHE WIE PRAKTISCHE ARBEIT UND DIE SCHWIERIGKEIT IM UMGANG MIT BEGRIFFLICHKEITEN GESPROCHEN.
Wenn wir im Folgenden über Performance Kunst sprechen. Was bedeutet performativ für dich?
Im deutschen Sprachgebrauch gibt es eine interessante Trennung zwischen Performer:in und Schauspieler:in, die es im Englischen so trennscharf gar nicht gibt: Im Englischen ist das Verständnis so, dass alle auf der Bühne performen, weil alle auf gewisse Weise als sie selbst, mit ihrem Körper auf der Bühne stehen. Der Begriff Performativ meint in diesem Falle also in erster Linie den körperlicher Vollzug. Das heisst, selbst wenn ich Hamlet auf der Bühne spiele, dann bin ich ja trotzdem mit meinem Körper auf der Bühne. Es gibt zwar quasi diese eine Rolle, die ich spiele, aber die Verbindung aus Rolle und Schauspieler:in ergibt die individuelle Figur. Auf deutschen Bühnen existieren demnach ganz viele unterschiedliche Hamlets, aber es gibt nur die eine Figur, die von demjenigen Schauspieler oder von derjenigen Schauspielerin gespielt wird. Das ist analytisch ein Moment, in dem ich als Person immer mit vorkomme, denn ich kann ja nicht jemand anders sein außer ich selber. Im Gegensatz dazu überwindet die Performanceart aber genau diesen Moment des so tun als-ob und arbeitet in der Darstellung oder im körperlichen Vollzug ausschließlich mit selbstreferentiellen, wirklichkeitskonstituierenden Momenten. Das ist der Begriff der Performativität, der in allen Künsten zwar immer häufiger Gebrauch findet, aber in der Performanceart tatsächlich zum Gegenstand einer eigenen Kunstform wird. Natürlich gibt es auch in den anderen Künsten performative Momente, z.B. wenn man sich den Aufführungscharakter von Werken in der Bildenden Kunst anschaut, das ist aber nur ein Teilaspekt, der eigentlich woanders herkommt. Die Performanceart vermeidet den Moment der auf etwas anderes verweist wie im klassischen Theater und ist im Wesentlichen viel werkorientierter.
Nur im Ansatz: Wie definierst du ästhetische Praxis?
Das ist sehr komplex und eigentlich Gegenstand eines ganzen Diskursfeld. Die ästhetische Praxis ist vor allem ein sehr junger Begriff, der sich in der jeweiligen Praxis immer wieder nochmal neu konstituiert. Aber ich möchte meine Erklärung versuchen darzulegen:
Wenn wir jetzt darüber sprechen, dass es eine künstlerische Praxis gibt, dann ist das für uns erstmal ein bisschen nachvollziehbarer. Dass man sagt, es gab irgendwann den Moment, in dem wir uns in der Kunst nicht mehr nur ausschließlich mit den Werken beschäftigt haben, sondern mit den Praxen, die hinter diesen Werken standen. Plötzlich ist nicht mehr nur die Betrachtung eines Bildes interessant, sondern wie die Künstler:innen das Werk hervorgebracht haben. Künstlerische Praxis ist also ein Begriff, mit dem wir viel eher umgehen können. Er bezieht sich jedoch nur auf künstlerische Praktiken, während der Ästhetikbegriff breiter gefächert ist und mediale, popkulturelle, politische, aktivistische oder politische Formen mit einschießt. Das heißt, die ästhetischen Praktiken untersuchen genau die Phänomene, die einen ästhetischen Gehalt haben. Ästhetisch im Sinne von sinnlich in Erscheinung treten, etwas tritt aus meiner Alltagsbeobachtung heraus. In dem Zuge wird ja auch oft von der Ästhetisierung des Alltags gesprochen. Wenn wir also diesen ästhetischen Zugang wählen, dann können wir uns auch mit ästhetischen Praktiken beschäftigen. Ich zitiere dazu Stefan Kranknagel und Wolf Elberfeld: „Ästhetische Praxis ist ein Handeln in dem Bahnen des gewohnten Verlassen-Werden. Nicht festliegende Normen oder rational gesicherte Absichten bestimmten das Handeln ästhetischer Praxis, sondern situative Resonanzen und sinnlich evozierte Evidenzen.“ Es geht immer auch um Momente der Irritation, der Neu-Definition.
Die ästhetische Praxis hat dadurch das Potential auf vielen verschiedenen Ebenen ein größeres Publikum anzusprechen. Das finde ich sehr wichtig.
Die Vermittlung von Performanceart ist natürlich auch eine künstlerische Praxis, aber mir ist es schon sehr wichtig diese als ästhetische Praxis zu begreifen. Insbesondere weil die Performanceart so weit gefasst und ständig erweiterbar ist. Und weil sie eben auch Schnittstellen zum politischen Aktivismus bietet, weshalb der Erfahrungsbegriff in diesem Zusammenhang so wichtig ist. Und weil sie eben auch oft Schnittstellen zu außer-künstlerischen Bereichen wie z.B. dem politischen Aktivismus hat. Im Kontext von Vermittlung ist für mich deshalb auch der Begriff der Erfahrung so zentral. Für den amerikanischen Philosophen John Dewey wird ein Erlebnis zu einer Erfahrung, wenn es abgeschlossen, "consummatory" ist, also im Sinne von greifbar. Ich kann sie aufnehmen, habe sie inkorporiert. Darin liegt auch der demokratische Moment der Erfahrung, da ich in die Kommunikation gehe und meine Erfahrungen teile. Eigentlich kommt die Erfahrung dadurch einem Kommunikationsmodell gleich, das zwar bei mir anfängt und aufhört, aber eben ständig geteilt wird. Zusätzlich kann ich körperlich darauf zugreifen. Und das ist genau das, was ich mit Vermittlung erreichen möchte: Den Raum öffnen! Dewey sagt z.B. auch, dass die ästhetische Welt immer einer nicht ästhetischen Welt entspringt. Beide Welten bedingen einander. Wir starten immer bei unseren persönlichen Geschichten, da geht es los. Deshalb ist die Verbindung von Kunst und Leben so wichtig!
"DIE BEREITS EXISTIERENDE KUNST IST ALSO ALS AUSGANGSPUNKT DER EIGENEN KÜNSTLERISCHEN KREATION ZU BETRACHTEN."
Wie sieht deine Vermittlungsarbeit als Kunstwerk aus?
Ich würde sagen Vermittlung kann Kunst sein, weniger ein Kunstwerk! Von der rezeptionsästhetischen Seite aus gesehen beschäftige ich mich ja vor allem damit, wie ich einen Begegnungsraum mit bereits existierender Kunst herstelle, das ist aber keine Voraussetzung dafür, selbst künstlerisch oder ästhetisch tätig zu werden. Menschen zusammen zu bringen, die sich in erster Linie nicht als Künstler:innen definieren: Wie können dabei kreative Prozesse angestoßen werden? Meist entstehen dann wie von selbst eigene künstlerische Prozesse, die ganz unterschiedlich aussehen können. In meinem letzten Kurs habe ich z.B. mit den One-Minute Sculptures von Erwin Wurm gearbeitet. Die Jugendlichen sind dazu auf die Suche nach Material gegangen, aus denen sie dann selber Skulpturen kreiert haben. Die bereits existierende Kunst ist also als Ausgangspunkt der eigenen künstlerischen Kreation zu betrachten. Und jeder kann dabei aus seinem eigenen Repertoire schöpfen. Nicht ausschließlich solistisch, sondern in der Gruppe, als soziales Gefüge. Und daraus entsteht dann etwas neues, ein experimenteller, künstlerischer Prozess. Aus der Arbeit kann auch alles hervorgehen: eine Aufführung, ein materielles Artefakt oder auch nur eine Handlungsanweisung. Wichtig ist, die Menschen an die Hand zu nehmen und dann loszulassen.
Welches Potential bietet deiner Meinung nach Performance Kunst und ihre Vermittlung?
Die Performanceart ist deshalb so wichtig, weil sie einen sinnlichen Zugang zur Welt ermöglicht und gleichzeitig großes Potential birgt sich kritisch mit eben dieser Welt und ihrer Bedingtheit auseinanderzusetzen. Durch den starken performativen Moment, müssen sich die Beteiligten immer irgendwie zu dem verhalten, was gerade passiert, die Teilnehmenden wie auch die Zuschauenden.
"KLAR, WAR ICH FROH, ALS WIEDER PRÄSENZWORKSHOPS STATTFINDEN KONNTEN, ABER IN DEM MOMENT WAR ICH AUCH SEHR DANKBAR DAFÜR, DASS ICH IN DER ÄSTHETISCHEN PRAXIS ZU HAUSE BIN."
Worin liegt die Aktualität von Vermittlungsarbeit? Was hat sich verändert?
Coronabedingt hat sich natürlich sehr viel verändert. Der Moment des körperlichen Zusammenkommens musste irgendwie überwunden oder im digitalen Raum imitiert werden. Das wurde sehr unterschiedlich gelöst. Mal mehr mal weniger virtuos. Ich glaube, dass es anhand der ästhetischen Praxis möglich ist, den digitalen Raum als einen körperlich zu begreifen. Weil sie auf den Schirm hatte, dass wir hier mit unseren Körpern sitzen. Die ästhetische Praxis hat also auch an diesem Punkt sehr geholfen! Klar, war ich froh, als wieder Präsenzworkshops stattfinden konnten, aber in dem Moment war ich auch sehr dankbar dafür, dass ich in der ästhetischen Praxis zu Hause bin. Ich hatte dadurch das Gefühl, dass mir ein anderer Zugang zu dem sehr zweidimensionalen, unsinnlichen Medium möglich war. Das ist einer von sicher vielen Punkten in der aktuellen Situation, der mir gerade einfällt.
Literaturhinweise:
Elberfeld, Rolf; Krankenhagen, Stefan (Hg.): Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung. Wilhelm Fink, 2017.
Jacob, Mary Jane: Dewey for Artists. Chicago: University of Chicago Press, 2018.
Hudelist, Andreas: Performancz, Performativität und Performance. In: Andreas Hudelist, Stefan Krammer (Hg.): Kultur des Performativen. Studien Verlag Innsbruck, Heft 3-2017. S.9-17.
Dewey, John: Kunst als Erfahrung. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2016.




www.vimeo.com/user133942877
Fotos:
- Videoperformance "Dialogues", Photo by Hussein AL-Dabash
- Simon Niemann, Photo by Hussein AL-Dabash
- Performanceworkshop Nov. 2021 an der Baltic Film, Media and Arts School in Tallinn
- One-Minutes-Sculpute von Sophie Schollek im Rahmen des Performanceworkshop "Alles ist Bild" im Nov. 2021